Leitartikel des Weggefährten September 2021

In meiner Stadt...

2021-09_Leitartikel (c) Pfarre St. Peter & Paul, Eschweiler
2021-09_Leitartikel
Datum:
So. 29. Aug. 2021
Von:
Margot Karenfort

In meiner Stadt hat jeder immer was zu meckern. In meiner Stadt kennt jeder jeden. In meiner Stadt wird über alles und jeden getratscht. In meiner Stadt ist dein Friseur dein Paartherapeut und dein Wirt dein Psychologe.

In meiner Stadt ist immer Karneval. In meiner Stadt ist Rosenmontag das absolute gesellschaftliche Großereignis. In meiner Stadt ist der am längsten Bürgermeister, der am besten ein Bierfass anschlagen kann. In meiner Stadt sitzt man am Markt und genießt den Blick auf St. Peter und Paul. In meiner Stadt läuft zu jeder Zeit der Laridah.

In meiner Stadt verbreiten sich Neuigkeiten beim Metzger oder im Eiscafé. In meiner Stadt ist Currywurst und ein Döner Grundnahrungsmittel. In meiner Stadt sagen wir Mäckes statt McDonalds.

In meiner Stadt denkt man, ein ehemaliges Baggerloch sei ein Naherholungsgebiet. In meiner Stadt nennt man das Braunkohlekraftwerk liebevoll "Wolkenfabrik".

In meiner Stadt ist dein Arbeitskollege der Cousin deiner Sitznachbarin aus der 6. Klasse, dein Versicherungsvertreter ist der Schwager deiner besten Freundin, dein Zahnarzt ist dein Sitznachbar im Kirchenvorstand. Und deine Schwiegermutter kannte schon deine Tante, als du deinen Mann noch gar nicht kanntest.

In meiner Stadt ist die Tanzmarie in der Freiwilligen Feuerwehr, dein Bankkaufmann beim THW und dein Nachbar von gegenüber kennt einen, der einen kennt...

In meiner Stadt ist der Drieschplatz Autokino, Corona-Testzentrum, Kirmes und Mülldeponie - innerhalb von 12 Monaten. In meiner Stadt zieht man Gummistiefel an und krempelt die Ärmel hoch.

In meiner Stadt meckert man nicht mehr, man packt an. In meiner Stadt organisiert man, entsorgt man, kocht man, hilft man. In meiner Stadt sind die Bauern besser vernetzt als die Landesregierung. In meiner Stadt putzt die Tanzgruppe und der Kirchenvorstand und die Nachbarschaft. In meiner Stadt weint man vor lauter wunderbarer Hilfsbereitschaft.

In meiner Stadt ist nichts mehr so, wie es mal war. In meiner Stadt ist viel kaputt. In meiner Stadt sind aktuell viele zu Recht verzweifelt. In meiner Stadt ist aber die Hilfsbereitschaft und das Miteinander größer als die Inde in der letzten Woche.

In meiner Stadt haben wir keinen Platz für Menschen, die nur mal wissen wollen, wie Hochwasser und Verwüstung aussieht. In meiner Stadt brauchen wir den Platz für alle, die mithelfen wollen, die kreative Ideen haben, die Probleme lösen.

In meiner Stadt brauchen wir Geduld und Freundlichkeit und Kraft, um alles wieder aufzubauen. Damit dein Wirt, dein Friseur, dein Metzger und dein Lieblingsladen vielleicht doch irgendwie weiter machen können und meine Stadt wieder so wird, wie sie einmal war - nur noch besser.

Britta Leipertz