In einem Reisebericht über Mexiko las ich von - für unseren Kulturraum - merkwürdigen Bräuchen rund um den Feiertag Allerheiligen. An diesen Tagen sind in den Auslagen der Bäckereien Marzipansärge und Totenschädel als süßes Gebäck zu finden. Am Abend von Allerheiligen gibt es eine Kindermaskerade, die Gräber der Friedhöfe sind über und über mit Kerzen geschmückt und vor den Friedhöfen werden für dieses Fest eigens Karusselle aufgebaut - mehr fröhlicher Jahrmarkt als Totengedenktag. An diesem Tag grüßt man sich gegenseitig mit dem Gruß: "Einen frohen Totentag!" Das ist sicherlich bei uns nicht jedermanns Geschmack. Aber ich muss anerkennen, dass dieses Brauchtum eigentlich eine sehr ursprüngliche Hoffnungskraft, ja sogar festliche Freude ausdrückt: Die Toten werden mit einem eigenen Fest in die Lebenswelt der Lebenden geholt. Der Tod wird nicht tabuisiert und nicht verdrängt.
Hat eigentlich der Tod in Deutschland noch einen Platz in einer Gesellschaft, die mit beiden Händen das volle Leben ausschöpfen will? Man sucht das pralle Leben und spürt dennoch unweigerlich: Ich kann mich noch so sehr gegen die Vergänglichkeit stemmen, dennoch rieseln die Zeit und das Leben wie Sand durch die Hände und können nicht festgehalten werden. Wem dabei der Glaube an ein Leben über den Tod hinaus schwerfällt, für den kann der Gedanke an den Tod unerbittlich und unerträglich werden.
Natürlich kämpfen auch Christen mit der unausweichlichen Tatsache des Todes. Auch Christen spüren das Unbehagen vor dem Hinaustreten aus dem Leben und dem Hinübergehen ins völlig Unbekannte, denn trotz aller technischen und medizinischen Möglichkeiten haben wir keine letzte verlässliche Auskunft über das Jenseits der Schwelle. Und dennoch: Sieht der Christ dem Tod auf andere Weise ins Auge?
Es ist kein Zufall, dass Allerheiligen vor Allerseelen gefeiert wird. Bevor wir unserer Toten gedenken, soll unser Blick geweitet werden. Es ist wie mit dem Zoom einer Kamera. Mit dem Fest Allerheiligen wird der Fokus geweitet – der Zoom wird auf "unendlich" gestellt. Damit bekommt das Gedenken an die Toten die rechte Gewichtung. Mit Allerheiligen feiert die Kirche die österliche Hoffnung auf ein Leben bei Gott über den Tod hinaus. Bevor wir also an Allerseelen der Toten gedenken, wird die Hoffnung auf ein Leben über den Tod hinaus in den Blick genommen. Die Botschaft von Allerheiligen heißt: Jeder darf hoffen und vertrauen, dass sein Leben nicht ins sinnlose Nichts zurückfällt, sondern dass dem Menschen im Tod von Gott her Erfüllung und Vollendung eines unvollkommenen Lebens ermöglicht wird – wenn er sich diesem Gott des Lebens anvertraut. Jesus Christus, der erste von den Toten Auferstandene, ist der Grund dieser Hoffnung.
Dabei ist dieses Leben bei Gott nicht nur einer exklusiven Zahl Auserwählter vorbehalten. Dieses Leben bei Gott ist nicht der Lohn für außerordentliche Leistungen, es ist Verheißung für alle, für die unüberschaubare Vielzahl aller, die ihr Leben in Gott vollendet haben. Glaube ist das schlichte Vertrauen: Dieser Gott, der sich in Jesus Christus gezeigt hat, ist ein Gott des Lebens. Er hat den Tod überwunden und kann unserem endlichen, unvollkommenen Leben Vollendung geben über den Tod hinaus.
Wer von diesem Ziel her auf das Leben und den Tod schaut, gewinnt eine neue Perspektive. Allerheiligen und Allerseelen sind echte Hoffnungstage. Die geschmückten Gräber, die Lichter, die Segnung der Gräber und der Besuch auf dem Friedhof sind zwar weitaus nüchterner als das Brauchtum um Allerheiligen in Mexiko. Aber hier wie dort gibt es wirklich etwas zu feiern – nämlich die Hoffnung auf Leben über den Tod hinaus.
Diakon Jürgen Schoenen